Erstversorgung für Wildvogel in Not
„Liebe geht durch den Magen“ – wenn wir ein hilfsbedürftiges kleines Wesen vor uns haben, packt uns meist als erstes das Bedürfnis, dem kleinen Pflegling als Erstversorgung Nahrung und/oder Wasser zu geben.
Widerstehen Sie bitte Ihrem ersten Impuls im Interesse des Vogels.
Wenn der kleine Vogel schon so sehr ausgehungert ist, dass er die nächste halbe Stunde ohne Futter nicht mehr überstehen würde, dann stehen ihre Chancen, ihn mit sofortiger Fütterung zu retten ohnehin mehr als schlecht. Wenn er andererseits noch Reserven hat – und das ist nach meiner Erfahrung in den allermeisten Fällen so, können Sie mit Fehlern gerade bei der Erstversorgung die Chancen auf Überleben drastisch verschlechtern.
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf in Not geratene Jungvögel: Nestlinge und Ästlinge.
Haben Sie einen hilfsbedürftigen Altvogel gefunden, lesen Sie bitte direkt im Kapitel Unterbringung die ersten Abschnitte.
Das Allerwichtigste für einen Jungvogel ist zunächst einmal Wärme und Stressfreiheit.
Die Frage nach der Wärme ist abhängig vom Alter und Entwicklungszustand des Vogels. Ist er noch nackt oder nur leicht mit Flaum bedeckt, benötigt er sofort eine zusätzliche Wärmequelle. Ich habe zu diesem Zweck immer eine Wärmeplatte, eine sogenannte „künstliche Glucke“ im Haus, die man zur Aufzucht von Hühnerküken verwendet. Sie werden das nicht unbedingt im Schrank stehen haben. Darum müssen Sie kreativ werden. Ob Sie nun eine Heizung hochdrehen und den Vogel direkt daneben platzieren, ein zu einem Nest geformtes Handtuch auf eine Wärmflasche legen oder im nächsten Zoohandel eine Wärmelampe (bitte kein Rotlicht) für Reptilien aufspüren – wichtig ist, dass der Vogel ohne Zeitverzug warm gehalten wird.
Damit es nicht zu einer Überhitzung kommt, ist es sinnvoll, ein Thermometer dort zu platzieren, wo der Vogel am dichtesten an der Heizquelle ist (also Wärmeplatte, Wärmelampe oben, Wärmflasche etc. unten). Das Thermometer sollte bei einem nackten Küken 37 Grad nicht überschreiten, bei einem bepflaumten Küken nicht über 28 – 30 Grad gehen und bei einem Vogel, der bereits erste Federn hat nicht über 20 – 25 Grad anzeigen.
Für einen Vogel, der bereits relativ weit befiedert ist, der schon flugfähig war oder bei dem es sich um einen Ästling handelt – also kurzum ein Vogel, der schon einen relativ „fertigen“ Eindruck macht, ist eine zusätzliche Wärmequelle nicht mehr erforderlich. Hier reicht es, dass der Vogel bei Zimmertemperatur in einem geschützten Nest stressfrei zur Ruhe kommen kann.
„Stressfrei“ bedeutet für ein Wildtier zunächst einmal immer fernab von allem, was ihm von Natur aus gefährlich erscheint. Das bedeutet nicht nur, dass Katzen, Hunde und andere Haustiere (auch unser Kanarienvogel oder der Sittich) in der Nähe des Vogels nichts zu suchen haben, es bedeutet auch, dass wir selbst uns zumindest, bis der kleine Vogel Vertrauen gefasst hat, so viel wie möglich von ihm fern halten, überflüssige Berührungen vermeiden und uns ruhig und sparsam bewegen.
Darüber hinaus gibt „ein Dach über dem Kopf“ den meisten Vögeln ein Gefühl von Sicherheit. Sie können also gut und schnell eine Müslischale mit Küchenpapier zu einem kleinen Nest auspolstern und dieses an, auf oder unter Ihre Wärmequelle befördern.
Zum Beispiel können Sie auch mit Hilfe eines auf einer Seite aufgeschnittenen Pappkartons quasi ein Häuschen über die Müslischale stellen, was dem Vogel einen geschützten, dunklen Raum bietet. Das ganze platzieren sie in einem Raum, in dem Ruhe herrscht – also wo sich erstmal keine Menschen oder Tiere aufhalten. Warum Sie keinen Käfig verwenden sollten, erkläre ich noch ausführlich im Kapitel „Unterbringung“.
Bevor Sie Ihren Findling jedoch in seiner „Höhle“ zur Ruhe kommen lassen, sollten Sie ihn noch einmal kurz auf Parasiten absuchen.
Wenn es auf dem Vogel nur so krabbelt und er einen sehr geschwächten oder einen extrem unruhigen Eindruck macht, dann ist es dringend erforderlich sehr schnell und als erstes etwas gegen die kleinen Blutsauger zu unternehmen, die einen kleinen Vogel innerhalb kürzester Zeit töten können. Bitte lesen Sie dann zunächst im Kapitel „Parasiten“ weiter. Wenn Sie nur bei intensiver Suche vereinzelt eine Milbe finden und der Vogel weder stark geschwächt noch sehr unruhig wirkt, können Sie den Vogel erst einmal in seiner Höhle zur Ruhe kommen lassen und sich der Parasiten später annehmen.
Nun haben Sie etwas Zeit, um sich das erste Futter zu besorgen.
Hierfür müssen Sie zunächst wissen, welches Futter Ihr Findling verträgt.
Bei Nestlingen und Ästlingen, also jungen Singvögeln ist das relativ einfach.
Fast jeder Singvogel in unseren Breiten zieht seine Brut anfangs sogar ausschließlich mit Insekten auf. Je nach Vogelart sind sie mehr oder weniger auf bestimmte Insekten spezialisiert.
Insofern kann das Verfüttern falscher Insekten dazu führen, dass der Vogel mit einer völlig falschen Nährstoff-Zusammensetzung ernährt wird.
Bevor Sie auf Insektenjagd gehen, müssen Sie zumindest sicher stellen, dass sie keinen der einzigen 4 Vegetarier (Grünfink, Stieglitz, Gierlitz und Bluthänfling) unter unseren kleinen Singvögeln haben.
Also sollten Sie zunächst Ihren Vogel bestimmen.
Von fast jedem Jungtier unserer Singvogelarten
werden normale Fliegen als Erstversorgung nach meiner Erfahrung hervorragend vertragen. Darum eignen sie sich als Erstversorgung besonders gut – zumal sie sich auch praktisch überall im Sommer beschaffen lassen. Also nehmen sie ein sauberes Glas, füllen es zur Hälfte mit Leitungswasser, bewaffnen sich mit einer Fliegenklatsche und gehen auf die Jagd.
Achten Sie bitte drauf, dass Sie nicht da jagen, wo Sie zuvor mit giftigen Sprays gegen Fliegen hantiert haben. Auch Fliegen aus Klebefallen oder bereits tote Fliegen vom Fensterbrett oder mit dem Elektrogrill gefangene Fliegen sind absolut tabu für kleine Vogelzöglinge. Wenn Sie eine Fliege frisch geklatscht haben, werfen Sie sie in ihr Wasserglas, damit die Fliege nicht austrocknet.
Nachdem Sie ein paar Fliegen erbeutet haben, geht es an die erste Fütterung:
Dafür brauchen Sie eine stumpfe Pinzette und viel Ruhe und Geduld. Setzen Sie sich bequem in Ihrem Vogelzimmer hin und fischen Sie Ihre erste Fliege aus dem Glas. Probieren Sie zunächst einige Male, das Futtertier mit der Pinzette schräg von oben auf den Kükenschnabel im Nest „zu schweben“ zu lassen und tippen Sie dabei ganz leicht gegen das Nest. Sie imitieren also praktisch den Anflug der Eltern zur Fütterung. Oft reicht das bereits, damit der Vogel den Schnabel aufsperrt.
Geschieht dies nicht, legen sie Ihr Futtertier griffbereit auf den Tisch. Dann nehmen Sie behutsam den kleinen Zögling aus dem Nest und setzen ihn als Rechtshänder (sonst umgekehrt) in die linke hohle Hand.
Je jünger und unselbständiger der kleine Vogel ist, desto dicker und leuchtender erkennen Sie rund um den Schnabel den weichen, sogenannten Schnabelwulst. Bei Altvögeln fehlt dieser völlig.
Da der kleine Vogel nicht weiß, dass Sie ihn füttern wollen, wird er mit aller Macht seinen Schnabel zu klemmen. Darum schieben Sie behutsam einen Fingernagel der rechten Hand an der Seite des Schnabels zwischen die Wülste und hebeln vorsichtig den Schnabel auf.
(Dabei sollte ein Finger der den Vogel haltenden linken Hand unbedingt den Schnabel so stabilisieren, dass er beim Aufhebeln nicht seitlich verschoben wird).
Mit demselben Finger können Sie dann den geöffneten Schnabel offen halten, während Sie mit der Pinzette in der rechten Hand die Fliege greifen und diese vorsichtig in den geöffneten Schnabel befördern.
Wichtig ist hier, dass Sie die Fliege mit der Pinzette so tief in den Schnabel befördern, dass die Fliege ganz hinten im Rachen den Gaumen ganz leicht berührt. Diese Berührung löst einen Schluckreflex aus, den Sie daran bemerken, dass der Vogel plötzlich selbst aktiv das Köpfchen etwas hebt und „nachschnappt“. In dem Moment, wo dieser Reflex ausgelöst wird, lassen Sie das Insekt einfach los und ziehen die Pinzette langsam und vorsichtig zurück.
Dieses Prozedere wiederholen Sie mit 3 – 4 weiteren Fliegen. Wenn Sie jedes Mal, wenn Sie mit der Pinzette in Schnabelnähe kommen, einen sich wiederholenden Laut von sich geben, z.B. ein leises Schnalzen, dann wird der Vogel sehr schnell wissen, dass dieses Geräusch Futter bedeutet. Oft sperrt er schon nach der 3. oder 4. Fliege sein Schnäbelchen selbst auf und beginnt sogar lautstark zu betteln.
Wenn der Vogel so weit ist, brauchen Sie ihn für künftige Fütterungen nicht mehr aus dem Nest zu nehmen, sondern können einfach die Fliege in den aus dem Nest bettelnden Schnabel befördern.
Sollte das Vögelchen sich nach der zweiten Fliege immer noch genau so nachdrücklich oder sogar noch nachdrücklicher gegen die Fütterung wehren wie beim ersten Mal, lassen Sie es damit erstmal gut sein. Vielleicht hat der Vogel auch innere Verletzungen, die Sie nicht sehen können und die ihm die Nahrungsaufnahme unmöglich machen. Dann wäre die Zwangsfütterung eine echte Qual.
Wenn Sie ein paar Fliegen verfüttert haben, oder auch, wenn der Vogel sich weiter massiv verweigert, setzen Sie ihren Zögling zurück in sein Nest, stellen Sie seine Höhle rüber und gönnen ihm wieder Ruhe.
Nun haben Sie etwas Zeit, sich mit ein wenig Recherche bezüglich Ihres Vögelchens zu befassen:
Verlieren Sie bitte dabei ihre Uhr nicht aus den Augen. Ihr kleiner Zögling sollte jetzt bis zum Ende des Tages erst einmal alle 20 – 30 Minuten ein paar Fliegen bekommen. Nach 19 – 20 Uhr ist für den kleinen Kerl dann Nachruhe angesagt und Sie haben mit Fütterung bis zum nächsten Morgen Pause.
Und noch eines sollten Sie sich bewusst machen:
Sie haben hier einen kleinen Vogel in Not aufgenommen. Dass er sich überhaupt in dieser Notsituation befand, legt nahe, dass er irgendeine Schwäche hat. Unter Umständen wird Ihnen der Vogel in den nächsten Stunden versterben. Machen Sie sich dann bitte keine Vorwürfe. Das Risiko ihren Pflegling zu verlieren gehen Sie immer ein, wenn Sie Tiere in Not aufnehmen. Sie geben dem Findling mit Ihrem Einsatz lediglich ein Hilfsangebot. Annehmen muss der Findling die Hilfe selbst.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die erste Nacht am häufigsten darüber entscheidet, ob ein Zögling es schaffen wird oder nicht. Darum habe ich mir auch angewöhnt, meinen Pfleglingen frühestens nach der ersten Nacht und spätestens, wenn ich das Gefühl habe „jetzt könnte er es schaffen“, einen Namen zu geben. Für mich ist es noch heute jedes Mal wieder eine freudige Erleichterung, wenn ich nach der ersten Nacht zu einem neuen Findling komme und sich mir auf meinen Futterruf ein emsig bettelndes Schnäbelchen entgegen reckt.
Bevor Sie nun mit Ihren Recherche beginnen, sollten Sie sich zunächst fragen, ob Sie den kleinen Vogel selbst aufziehen möchten, oder ob Sie eine geeignete Pflegestelle suchen wollen. Egal, wofür Sie sich entscheiden, Sie sollten sich immer bewusst machen (und bei einer Pflegestellensuche auch hinterfragen), dass eine Aufzucht nicht erfolgreich war, wenn der Vogel fliegen kann und er vor die Tür gesetzt wurde und weg ist. Eine Aufzucht ist erst dann „erfolgreich“ gelungen, wenn der Vogel selbständig in der Natur leben und überleben kann und im Idealfall die Geschlechtsreife erlangt. Ob Ihr Zögling draußen überlebt und irgendwann eine eigene Familie haben wird, werden Sie nur in jenen Fällen sicher wissen, wo er eines Tages wieder auftaucht und sich zu erkennen gibt. Das ist natürlich die schönste Bestätigung, geschieht aber bei weitem nicht immer.
Ich kann aber je nach Vogelart herausfinden, ob die Vögel sofort selbständig sind oder ob sie noch mehr oder weniger lange von ihren Eltern geschult und versorgt werden, wenn sie ihr Nest verlassen haben.
Ist dies der Fall, kann man sich denken, dass ein Vogel, der nach Verlassen des Nestes raus gelassen wird und am Himmel entschwindet ohne gelernt zu haben, wie er wieder zurück zu Ihnen als Ersatzelternteil und Futterquelle findet, noch weiß, wie er jagen soll, keine großen Chancen hat, die nächste Zeit zu überleben. Viele dieser Vögel verhungern elendlich, wenn sie nicht vorher einem Greifvogel zum Opfer fallen.
Ein Vogel, der nach Verlassen seines Nestes noch lange von seinen Eltern begleitet wird, ist darauf angewiesen, dass sein Pfleger als Bezugsperson diese begleitende Funktion übernimmt, solange der Vogel sie braucht.
Erste Schritte – selbst päppeln
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